Das inverse Schlüssellochprinzip und die Top-down-Methode.
Manche Menschen fühlen sich am erfüllten Ausleben ihrer Persönlichkeit gehindert, obwohl sie sich in ihrer Kindheit in ihrer Identität vollständig benennen konnten. Meist waren sie jedoch aufgrund ihrer kindlichen Situation gezwungen, die Schattenseite ihres jeweiligen Identitätsaspektes, über den sie sich selbst definieren, zu leugnen. Ihr Schicksal als Erwachsener ist es daher häufig, sich in der Ablehnung dieses Aspektanteils zu verausgaben. Ihre oft enorme Lebensenergie verschwendet sich einzig in der Darstellung ihrer Person etwa als fehlerfreier Mitarbeiter, als werteorientierter Manager, als liebevolle Mutter, dahingehend als unübertrefflicher Zeitgenosse.
Hierbei versucht der Betroffene verzweifelt, seine Rolle so zu erfüllen, wie er sie aufgrund des Drucks durch gesellschaftliche Normen versteht. Die Sehnsucht, ausschließlich so zu sein, wie die Lichtseite seines Identitätsaspektes, verhindert hierbei die angemessene Selbstwahrnehmung und wenn die Kräfte zur Selbstdarstellung eines Tages erschöpft sind, bleibt nur noch der Rückzug von einem scheinbar unehrlichen Umfeld und in die Depression.
Ein mit dieser Lebenstragik vertrauter Therapeut nimmt seinen Klienten in dessen „Wunschidentität“ wahr und hat nicht den Auftrag, ihn etwa zu enttarnen. Denn der Klient täuscht nicht vor, etwas zu sein, was er nicht ist, sondern versucht unter höchstem Kraftaufwand zu verdecken, was er auch ist, weil er nie die Chance hatte, sich mit seiner persönlichen Schattenseite auseinandersetzen zu dürfen. In der Erkenntnis, dass wir Licht nur dadurch wahrnehmen können, weil es sich vom Schatten absetzt, begleitet der Therapeut im Rahmen von Aspekttherapie mit Hilfe der Top-down-Methode seinen Klienten in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Hierdurch ermöglicht sich dem Klienten erstmals ein Blick vorbei an seinem überproportional ausgebildeten Identitätsaspektanteil in die eigene, oft ausgeprägte Gesamtpersönlichkeit, zunächst eher zögerlich und vorsichtig wie durch ein Schlüsselloch. Meist zeigt sich jedoch innerhalb kürzester Zeit eine verbesserte Gefühlslage des Klienten, weil er endlich erkennen kann, dass er vor seinem eigenen Schatten nicht weglaufen muss. Mehr noch, voller Freude nimmt er sich bald im Ganzen wahr und erfasst, dass ihn die Akzeptanz des Schattens beim verantwortungsbewussten Ausleben seines Identitätsaspektes geradewegs stabilisiert.
Im Ergebnis wurde der vormals überproportional entwickelte Aspektanteil auf angemessene Größe zurückgebildet, gewissermaßen von oben nach unten dem Entwicklungsstand der Gesamtpersönlichkeit des Klienten angepasst. Der auf Normalgröße geschrumpfte Lichtanteil hat endlich den ihn stabilisierenden Schattenanteil als Partner an seiner Seite. Der Klient muss keine Seelenkraft mehr darauf verschwenden, sich selbst darzustellen, sondern kann in erfolgter Selbsterkenntnis endlich seine Energien für die Verwirklichung seiner Lebenspläne verwenden. Diesen selbstbestimmten Prozess des Klienten zu begleiten, ist hierbei die therapeutische Aufgabe.