Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das aus vielerlei Blickwinkeln heraus betrachtet werden kann. Allgemein gilt für dieses psychologische und neurophysiologische Phänomen zunächst, dass Betroffene Sinnesreize viel intensiver wahrnehmen, diese tiefer verarbeiten und darauf emotional stärker als der Durchschnitt der Bevölkerung reagieren. Jedoch führt dieses Persönlichkeitsmerkmal keinesfalls zwangsläufig in die Psychotherapie.
Grundsätzlich benötigen Kinder zu ihrer Selbstfindung und der daraus resultierenden seelischen Gesundheit, in ihrer Eigenheit erkannt, wahrgenommen und angemessen begleitet zu werden. An diesem Punkt wird es für den Hochsensiblen allerdings bereits kritisch, wenn er nämlich in einem Umfeld groß wird, das seine vorbeschriebene Eigenart nicht zu erkennen vermag und ihm Anpassungsleistungen abverlangt, die seinen neurophysiologischen Gegebenheiten widersprechen. Sehr leicht wird dann das, was für andere lediglich zu laut, zu schnell oder zu widersprüchlich ist, zum Horrorszenario für den Hochsensiblen. Er muss genau das, was für ihn unerträglich ist, tiefenverarbeiten und die aufkommenden Emotionen, die dem UNERTRÄGLICHEN entsprechen, soll er zusätzlich noch regulieren.
Der Hochsensible steckt von jetzt auf gleich in der Hölle und keiner bemerkt es, weil die Wahrnehmung der Masse, die das angeblich NORMALE bestimmt, sich über die Befindlichkeit des betroffenen Hochsensiblen hinwegsetzt. Versuche, das hochsensible Kind in solchen Situationen zu maßregeln oder ihm seine Befindlichkeit auszureden, führen es in den Zustand höchster Verzweiflung. Nachdem die Umstände es beispielsweise bereits körperlich malträtiert haben, wird es nun psychisch überfordert, weil man ihm die Angemessenheit seiner Reaktion nicht glaubt. Erfolgreiche Emotionsregulation kann so nicht erlernt werden.
Die Erwachsenen sehen keinen Grund, warum das Kind weint, und das Kind weint, weil die Bezugspersonen es nicht verstehen und ihm nicht beistehen. Mehr noch, sie lösen erst durch dieses Verhalten seine seelische Not aus, anstatt ihm diese zu nehmen. Seine Hoffnung auf Fairness in dieser Welt wird dabei zutiefst erschüttert, gleichzeitig strengt es sich zukünftig über alle Maßen an, Fairness herzustellen, vermutlich um den Glauben an deren Existenz behalten zu dürfen.
Auf diese Weise verbleibt dem Hochsensiblen auf seinem Lebensweg sozusagen eine offene seelische Wunde, durch die er auf späteren Altersstufen zum gefundenen Fressen für seine Mitmenschen werden kann, die Mobbing betreiben. Mittlerweile hat das so erwachsen gewordene Kind nämlich gelernt, die Energien zu unterscheiden, die die Emotionen seines Gegenübers begleiten. So vermag es, Häme und Schadenfreude genau zu erkennen und weiß, wann der andere absichtlich gegen es vorgeht, wobei der Mob durch sein Verhalten kundtut, dass nichts vorgefallen sei. Nunmehr erlebt es nicht nur Unverständnis und Ablehnung, sondern gezielte Angriffe auf seine Persönlichkeit bei nagenden Zweifeln an seiner eigenen Wahrnehmung.
Es nutzt daher erneut seine besondere Wahrnehmungsfähigkeit, um seine soziale Umwelt noch tiefer zu ergründen, in der Hoffnung, damit seine Zweifel zu beseitigen. Jedoch verstärkt der Hochsensible damit lediglich die Kluft zwischen sich und den anderen, weil er durch die zunehmende Wahrnehmungsverfeinerung plötzlich die seelischen Abgründe der anderen erkennt. Infolgedessen erfasst er mehr, als er emotional verkraften kann, ohne dass er Beweis dafür mittels Abklärung und Übereinstimmung seiner Wahrnehmung mit der der Masse zu führen vermag. So erfährt der betroffene Hochsensible keine angemessene Spiegelung seiner Persönlichkeit. Seine Emotionsregulationsfähigkeit kann sich folglich nicht hinreichend weiterentwickeln, weil er im sozialen Kontakt mit seinem unreflektierten Umfeld gepeinigt wird und die offene seelische Wunde der Kindheit nicht verheilt. Das führt den Betroffenen in seelische Isolation und menschliche Einsamkeit.
Häufig veranlasst den Hochsensiblen erst die aus diesem anstrengenden Lebenskampf resultierende psychische Erschöpfung, eine Psychotherapie aufzunehmen. Hier gilt es, den Hochsensiblen in der Richtigkeit seiner umfassenden Wahrnehmungsfähigkeit zu bestärken und ihn mit Impulsen zu versehen, die es ihm ermöglichen, ein auf seinen persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen basierendes und somit tragfähiges Welt- und Menschenbild zu entwickeln und die ihm aus seiner Weltsicht erwachsenden Emotionen zu regulieren. Ziel der Therapie ist es, dass sich der Hochsensible auf der Grundlage seiner neu erworbenen Ichstärke in der Interaktion mit der sozialen Umwelt als erfolgreich erlebt.